Sommario: Das Rezeptionsprozeß der Philosophie Fichtes in Italien könnte wie folgt zusammengefaßt werden. Nach einer Anfangsphase in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (Pasquale Galluppi) , ist seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine zweite Phase eingetreten, in der Fichte vom Standpunkt des Hegelschen bzw. Hegelianischen Vorbildes der Philosophiegeschichte aus rezipiert und ausgelegt worden ist (denkt man an Bertando Spaventa und Giovanni Gentile), auch wenn die Dominanz dieses Standpunkts nicht ohne bedeutende Ausnahmen geblieben ist (vgl. die Interpretationen von Pantaleo Carabellese und Pietro Martinetti). Das Nachlassen des sog. Neuidealismus und der Verfall des Hegelschen Entwicklungsschemas, samt der Selbstbehauptung anderer philosophischen Richtungen (Existenzphilosophie, Phänomenologie), haben dieser längeren Phase ein Ende gemacht und eine neue, dritte Phase erschlossen, die sich gegen die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts abzeichnete und besonders von der Absicht gekennzeichnet war, das Eigentümliche des Fichteschen Gedankengutes von den tradierten Schemata zu befreien und als solches zur Geltung zu bringen. Hierzu gehören die Interpretationen von Enrico Opocher, Arturo Massolo und Luigi Pareyson. Als konsequente Entwicklung dieser Epoche kann die Blüte der Fichte-Forschung der letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eingeschätzt werden (siehe auch die Fichte-Studien von Pasquale Salvucci, Emanuele Severino, Aldo Masullo). Während dieser Zeit sind zahlreiche Studien und Übersetzungen durchgeführt worden, welche sich mit der ganzen Wissenschaftslehre und ihren Teildisziplinen (Ethik, Rechts- Religions- Geschichtsphilosophie, Ästetik, Politik) beschäftigen. Claudio Cesa gilt als die prominente Figur dieser letzten Periode der Fichte-Forschung in Italien. |
Prima pagina:
- Fichte lesen
Mit meinen Ausführungen will ich keine erschöpfende Darlegung der Rezeption Fichtes in Italien bieten, sondern nur einige ihrer Hauptmomente herausstellen. Einleitend gilt es, von einer Aussage Luigi Pareysons in seinem richtungsweisenden Buch: Fichte (I. Auf. 1950, 2. vermehrte Auf. 1976) auszugehen: »Erst heute sind wir in der Lage, Fichte wahrhaft zu lesen« (Pareyson, 1976, S. 46; Hervorhebung von mir). Der Grund dafür liegt Pareyson zufolge darin, daß »erst heute« - und zwar nach dem zweiten Weltkrieg und als Folge der Selbstbehauptung der vom späten Schelling vorweggenommenen Philosophie der Existenz - jene fast ein Jahrhundert lang beherrschende »Hegelsche Konzeption der philosophischen Geschichtsschreibung« einer gründlichen und schlagenden Kritik unterzogen worden war, die ihr ihre dominierende Stellung entzog. Nun, diesem interpretatorischen Vorbild der Philosophiegeschichte Hegelscher bzw. Hegelianischer Herkunft gemäß - ein Vorbild, das im Laufe der Zeit zu einer Art philosophischen Gemeinplatzes geworden war und selbst von vielen Anti-Hegelianern de facto angenommen wurde -, galt bekanntermaßen die als ›subjektiver Idealismus‹ verstandene Wissenschaftslehre bloß als ein Übergangsmoment in der ›genealogischen‹ Entwicklung des sog. ›deutschen Idealismus‹: diese habe ihren Anfang von Kants Vernunftkritik genommen und über den ›objektiven Idealismus‹ Schellings ihre Vollendung und Krönung im ›absoluten Idealismus‹ Hegels gefunden. Der Preis dieser philosophiehistorischen Übergangs-Theorie war - was Fichte betrifft - eine »einseitige Interpretation« der Wissenschaftslehre, die sowohl ein echtes Verständnis ihrer Gesamt-Entfaltung als auch eine adäquate Erfassung ihres Kerngedankens bei weitem unmöglich machte.
Verfolgt man die Beurteilung Pareysons bis in ihre letzten Konsequenzen, müßte man den Schluß ziehen, daß eine eigentliche Rezeption der Philosophie Fichtes in Italien bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts grundsätzlich ausgeblieben und erst ab diesem Zeitpunkt möglich geworden sei. Nicht zufällig spricht der Turiner Philosoph von den »widersinnigen Interpretationen durch Spaventa und Gentile« (Pareyson, 1976, S. 98), widersinnig eben deshalb, weil es bei ihnen noch immer um einen »subjektivistisch und daher nach Hegelschen Standpunkten verstandenen« - aber eher mißverstandenen - Fichte ging. Nun scheint mir, daß die strenge Einschätzung Pareysons hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte der Fichteschen Philosophie in Italien einen Wahrheitskern behält, selbst wenn man den oben erwähnten Schluß nicht ziehen will, demzufolge das Verständnis des Denkens Fichtes bei uns lange Zeit in der Tat ein Mißverständnis geblieben sei. Denn erstens ist zu bemerken: die Rezeption Fichtes in Italien war - vor allem zur Zeit des italienischen Hegelianismus und später des sog. Neuidealismus, welche das philosophische Klima des Landes nach der staatlich-politischen Einigung und fast bis zum zweiten Weltkrieg stark beeinflussten -, tatsächlich weitgehend bedingt durch das Hegelsche bzw. Hegelianische Schema der Philosophiegeschichte - und dies hat u. a. zur Folge gehabt, daß die Philosophie Fichtes in Vergleich zu denjenigen Kants oder Hegels auf der philosophischen Bühne des Landes nur eine Randrolle spielen konnte. Das bedeutet aber nicht - und das ist meine zweite Überlegung -, daß die Fichte-Interpretationen, die bei uns vom genannten Schema beinflusst wurden, für eine Rezeptionsgeschichte der Fichteschen Philosophie in Italien nicht von Interesse wären; denn sie wurden einerseits von starken philosophischen Köpfen zustande gebracht, von denen man noch immer viel lernen kann, und andererseits haben diese Interpretationen das Fichte-Bild in der philosophischen Geschichtsschreibung und beim gebildeten Publikum - und das bedeutet auch: im Schulunterricht und an den Hochschulen - weitgehend geprägt. Drittens: das Hegelsche bzw. Hegelianische Interpretationsschema konnte trotz seiner weiten Verbreitung nicht verhindern, daß sich gleichzeitig auch andere bedeutsame Auslegungen des Fichteschen Gedankenguts geltend gemacht haben, die von den Voraussetzungen des Hegelianismus oder des sog. Neuidealismus unabhängig oder sogar ihnen entgegengesetzt waren. |